Dem Himmel ganz nah
"Carpatia" - ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm von
Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski über Zeitenwenden in den Karpaten
von Thomas Medicus
Mitteleuropa sei, definierte Milan Kun-dera Mitte der achtziger Jahre, als
diese Region blockgrenzenübergrei-fend die intellektuelle Diskussion
be-stimmte, eine "ungewisse Zone klei-ner Nationen zwischen Russland
und Deutschland". Nationen, erfüllt von Misstrauen gegenüber
der Geschichte, ergänzte der damals bereits nach Paris emigrierte tschechische
Roman-cier, deren Opfer sie stets gewesen seien.
Dieser von der geschichtsmächti-gen Furie des Verschwindens
bedroh-ten Zone kleiner Völker widmet sich Carpatia voller Empathie. Eine
"terra incognita im Bewusstsein der West-
|
europäer" nennen Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski die östlich von Wien
bis in die Ukraine sich erstreckenden Karpaten. Im September 2001 bra-chen
die beiden in Wiesbaden leben-den Dokumentarfilmer zu einer Reise durch
vier der Anrainerländer des 1500 Kilometer langen Gebirgszuges auf, die
Slowakei, Polen, Rumänien sowie die südwestliche Ukraine.
Im Wechsel der Jahreszeiten, in mal tief verschneiter, mal
sommerlich grüner Landschaft, treten Menschen vor die Kamera, die so
sehr mit der sie umgebenden Gebirgsnatur eins sind, dass sie immer noch
deren Teil zu sein scheinen. Die ukrainische Huzulenfa-milie Marusjak
lebt stadtfern hoch oben in den Bergen. "Dem Himmel ganz nah", wie die
Tochter mitteilt, nehmen die Einödbauern Jahr für Jahr die Mühen ihrer
unfreiwilligen Autarkie auf sich, sorgen für Wasser und Wärme, produzieren
fast alle Lebensmittel
|
selbst und auf Vorrat, damit sie im Winter nicht verhungern müssen.
Marinella ist Besitzerin eines Le-bensmittelladens
in einem kleinen Siebenbürgener Dorf, das sie, wenn sie den Mut fände, verlassen
würde. Stattdessen gibt sie sich auf Gott ver-trauend ihrem Schicksal hin
und be-treut ihre alte Mutter, die ohne sie nicht zurecht käme. Ob sie schon
ein-mal verliebt gewesen sei? Fest in die Kamera blickend, verneint Marinella
mit traurigen Augen. Kaum weniger me-lancholisch der slowakische Zaube-rer,
der des Reisens müde im Zirkus-wagen durch die Lande fährt und sein Glück
lieber in Australien suchen wür-de.
Traurige Menschen
Dieser meditative Film, der ohne Off-Kommentar, Soundtrack
und tempo-schaffende Schnitte auskommt, kennt
|
viele traurige Menschen. Carpatia, bemerkenswertes Beispiel im Genre der
ethnographischen Dokumentation, erzählt zwei Stunden lang vom dro-henden
Untergang der in der unge-wissen Zone kleiner mitteleuro-päischer Nationen
heimischen kultu-rellen Traditionen. Alles, was die Kamera zeigt, ist gleichberechtigt.
Mensch und Natur, Mensch und Tier, sogar die Wind- und Wettergeräusche,
die zu hören sind, stehen ebenbürtig neben menschlichen wie tierischen
Stimmen.
Doch dieser vormodern-archa-ische Kosmos
ist längst auf dem Wege von der mythischen in die geschicht-liche Zeit.
Noch beugen sich die-jenigen, die über sich eher verhalten und schamhaft
als offen und be-reitwillig Auskunft geben, weniger dem Gesetz der Menschen
als dem-jenigen Gottes. Carpatia ist auch die Momentaufnahme solcher dahin-
|
schwindenden Bewusstseinsformen, für die Religiosität nicht bloß
Kon-fession, sondern überlieferte Lebens-weise ist.
Sturm der Modernisierung
Dass deren Tage gezählt sind,
muss auch die bettelarme rumänische Sinti-Familie erfahren, die der
Sturm der Modernisierung umzuwerfen droht. Andere haben es seit Jahrzehnten
nicht mehr geschafft, aufzustehen. Im galizischen Kolomyia laden drei Juden,
mehr zählt die Gemeinde nicht mehr, zum Laubhüttenfest ein, aber
es kommt niemand. Also stehen die drei frommen Männer, jeder von ihnen
eine Banane essend, alleine in ihrer Laub-hütte aus bunten Gummiplanen.
Nach ihnen wird nichts mehr kommen, sagt der älteste auf jiddisch,
ein anderer, Hitler habe die Juden physisch, die Rote Armee geistig vernichtet.
|
Zweifellos gehört die Sympathie des Films den Opfern der hegemonialen
Geschichte wie den Verlierern der gegenwärtigen Modernisierung. Nos-talgische
Illusionen über neuerliche Rückbindungen macht sich der Film dennoch
nicht. Wir sehen betörend schöne Bilder einer scheinbar immer-gleichen
Natur, müssen uns jedoch von dem archetypisch wirkenden Fährmann
Józef über den Schrecken seiner alles belauernden südostpol-nischen
Dorfgemeinschaft aufklären lassen. Die Annehmlichkeiten des zivilisatorischen
Fortschritts will uns dieser kluge Film, der über die Heimlichkeiten
wie Unheimlichkeiten Mitteleuropas so gut Bescheid weiß, nicht ausreden.
Wer also wollte dem 26-jährigen
Rumänen, der englisch spricht und in einer von ausländischen Investoren
ausgebeuteten Goldmine sein Brot verdient, verdenken, dass er sich auf
|
das moderne Haus freut, das ihm die Minengesellschaft verspricht? Dass das
den Goldschürfern im Wege stehende alte Dorf abgerissen wird, der Hirte
Alexandru, seine Frau und dreitausend weitere Einwohner Rosia Montanas deshalb
umgesiedelt werden müssen, finden wir aber trotzdem unerträglich.
Zu den Stärken dieses Dokumentarfilms gehört auch, dass er seine
Zuschauer im Zweifel darüber nach Hause gehen lässt, wie es wohl
aussehen könnte, das richtige Leben.
|